Post by André JoostPost by Matthias WarkusAbgesehen davon, dass MIV nach völlig anderen Gesetzen funktioniert als
öffentlicher Verkehr, habe ich bewusst "weite Teile der" und nicht
"alle" gesagt. Es ist einfach so, dass, wenn ohnehin jeder, egal ob
Nutzer oder nicht, für die Kosten aufkommen muss, es wesentlich weniger
Motivation zu fahrgastzahlsteigernden Maßnahmen gibt.
Wenn die Fahrgastzahlen verzehnfacht werden, ist wohl ohnehin ein
gewisser Sättigungsgrad erreicht, den du nur mit *sehr* viel Geld noch
minimal steigern kannst.
Wie kannst du von der Änderung eines Absolutwertes (Verzehnfachung der
Fahrgastzahlen) bei nicht näher beziffertem Anfangs- oder Endwert auf
einen Anteil (Sättigungsgrad) schließen wollen? Und was sagt dir, dass
ein zwangsumlagefinanzierter ÖPNV die Fahrgastzahlen verzehnfacht? Oder
auch nur verzehnfachen *kann*?
Würdest du hier in Marburg, wo der ÖPNV ohnehin gut angenommen ist (der
Anteil Semesterticket-Nutzer ist hoch, aber weit von 100% entfernt), so
ein "Bürgerticket" einführen, die Fahrgastzahlen könnten sich überhaupt
nicht verzehnfachen, weil die Auslastung auf den Hauptlinien ohnehin
schon hoch ist. Und jetzt steigere mal die Kapazität drastisch, wenn du
das nicht über erhöhte Fahrgeldeinnahmen gegenfinanzieren kannst,
sondern dazu durchdrücken musst, dass eine Quasisteuer, die auch von
allen Nichtnutzern erhoben wird, erhöht wird. Umgekehrt: Wenn eine
Mehrheit für Senkungen der Umlage da ist, ist die Versuchung groß, damit
Politik zu machen, unter Inkaufnahme von Unterfinanzierung; wenn eine
Mehrheit für Erhöhungen da ist und die Leistungen freihändig an die
Stadtwerke gehen, ist die Versuchung da, denen Geld zuzuschubsen.
Ein Bürgerticket halte ich nur für sinnvoll, wenn gleichzeitig durch
konsequentes Ausschreiben und Controlling in beide Richtungen
sichergestellt wird, dass die erhobene Umlage in ihrer Höhe dem
erreichten Beförderungserfolg einigermaßen entspricht. Aber dazu muss
der Stadtrat die Empfehlungen der Finanzierungskommission jedes Jahr
diszipliniert durchwinken und es schaffen, die "Parkplatzparteien", die
danach schreien, den ÖPNV zur Senkung der Umlage drastisch
zusammenzustreichen oder aber wieder Fahrgelder einzuführen, im Zaume zu
halten.
Insgesamt glaube ich ganz einfach nicht, dass ein umlagefinanzierter
Nahverkehr motiviert wäre, so effizient und attraktiv zu sein wie HVV
oder KVV. Dazu sehe ich bei einem Bürgerticket-Modell die Anreize für
die Betreiber nicht groß genug; zudem gibt es eine Motivation für die
politisch Verantwortlichen, das System in Richtung Ostblock zu
entwickeln, wo ja gegen Ende auch quasi zum Nulltarif auf
zerbröckelnder Infrastruktur gefahren wurde.
mawa