Am Tue, 3 Mar 2009 17:37:58 UTC, schrieb Edmund Lauterbach
Das ist das eigentliche Thema, und es nicht betrüblich, sondern eine
Katastrophe. Der GAU beim Tunnelbau.
Post by Edmund Lauterbach| Der Schaden sei erheblich größer als beim Brand der Weimarer
| Anna-Amalia-Bibliothek, sagte Illner. «Wir reden hier von ungefähr
| 18 Regalkilometern wertvollsten Archivguts, und zwar europäischen
| Ranges.»
30 Regalkilometer, und unersetzliche Dokumente nicht nur der
Stadtgeschichte, die auch europäische Geschichte ist, sondern auch
Nachlässe von vielen bedeutenden Künstlern von Jacques Offenbach bis
Heinrich Böll.
Siehe dazu den Artikel "Der Preis der U-Bahn" von Andreas Rossmann
vom 5.3.2009 in der FAZ
Post by Edmund Lauterbach<http://www.faz.net/s/Rub117C535CDF414415BB243B181B8B60AE/Doc~E987FC9EC804C4B0BA9F549B7FC8DE99A~ATpl~Ecommon~Scontent.html>
------------ schnipp ------------------------
Kölner Stadtarchiv
Der Preis der U-Bahn
Von Andreas Rossmann
05. März 2009 Was der Einmarsch der Franzosen 1794 und der Zweite
Weltkrieg nicht vollbracht haben, hat der U-Bahn-Bau in Köln, der mit
großer Wahrscheinlichkeit die Ursache für den Einsturz des Hauses
Severinstraße 222-228 ist, geschafft: Das Historische Archiv der
Stadt, in dem mehr als tausend Jahre ihrer Geschichte aufbewahrt
wurden, ist weitgehend zerstört, das Gedächtnis des Gemeinwesens
ausgelöscht. Was davon gerettet und aus den Trümmern geborgen werden
kann, ist noch unklar, doch vermag brüchiges Pergament Beton und Stahl
wenig entgegenzusetzen. Nicht zuletzt wird es auf das Wetter ankommen,
für die kommenden Tage sind erhebliche Regenfälle angekündigt worden,
und das Archivmaterial ist bislang nur durch Planen vor eindringendem
Wasser geschützt.
Die Aussage seiner Fassade schien eindeutig, beruhigend: Was in diesem
Haus verwahrt wird, ist sicher; ist geschützt vor den Einwirkungen des
Lichts und des Klimas, vor Brand und Diebstahl, wird erhalten für alle
Zeit. Fenster hatte das Gebäude in der Nähe des Waidmarkts nur im
Erdgeschoss, in den sechs Stockwerken darüber gliederten
schießschartenschmale Öffnungen die vorgehängten Granitplatten und
gaben ihm die Anmutung eines Bunkers. Dabei war der moderne Zweckbau,
1970/71 im Stil der Zeit errichtet, ein Schatzhaus, auch wenn er
nichts davon hermachte: Vorbild für andere Archivbauten, die nach dem
"Kölner Modell" errichtet wurden. Eine doppelte Ziegelmauer sorgte für
natürliche Klimatisierung, die Alarmanlage war auf dem neuesten Stand,
und die Feuerwehr liegt gleich um die Ecke.
Der größte anzunehmende Unfall
Und nun das - der größte anzunehmende Unfall. Unfassbar, nicht zu
fassen, und das im wörtlichen Sinn: Die meisten Originale wird nie
mehr jemand in die Hände nehmen können. Welch unglaublicher Tribut an
den technischen Fortschritt, welch horrender Preis für ein
U-Bahn-Bauprojekt, das zwischen Hauptbahnhof und Chlodwigplatz 28
Meter in die Tiefe geht und von Anfang an umstritten war. Zunächst auf
630 Millionen veranschlagt, ist es längst aus dem Kostenrahmen
gelaufen und wird inzwischen auf 950 Millionen Euro kalkuliert. Schon
im September 2004 hatte es, was sich nun wie ein Menetekel ausnimmt,
den Kirchturm von St. Johann Baptist, zweihundert Meter südlich des
Archivs, in Schieflage versetzt, zwei Monate später eine Sperrung von
St. Maria im Kapitol erzwungen und im Juli 2007 im Turmkeller des
Rathauses, wo viele Kölner sich trauen lassen, den Boden gesenkt. Auch
die kleine, nördlich des Archivs gelegene romanische Kirche St. Georg
ist in Mitleidenschaft gezogen: Kleinigkeiten im Vergleich zu dieser
Katastrophe, die großartige Spenden von Bürgern, Künstlern und
Institutionen liquidiert und die Arbeit mehrerer Generationen von
Archivaren durchstreicht.
Das Historische Archiv der Stadt Köln galt lange als das Flaggschiff
unter den Kommunalarchiven in Deutschland, und das nicht nur, weil es
eines der ältesten und das größte nördlich der Alpen war. Erstmals
erwähnt wird es 1322, da hat es noch Platz in einer Kiste. Schon 1406
wird ein Gewölbe unter dem Rathausturm dafür bestimmt, zwei Jahre
später werden vierunddreißig Abteilungen angelegt. Schriftgut aus
achthundert Jahren war hier gespeichert und bildete das Rückgrat der
verwahrten Überlieferung: Beschlüsse des Stadtrats sind seit 1320,
zunächst nur die bedeutenderen, von 1513 an lückenlos, protokolliert;
Stadtrechnungen sind seit 1370 erhalten, und 1367 beginnt die Reihe
der 221 Briefbücher, die die Schreiben an andere Städte, Fürsten und
Herren enthält.
Stolz auf die Geschichte
Allein die Zahl der Pergamenturkunden beläuft sich auf 65.000, die der
Karten und Pläne auf mehr als hunderttausend, die der Fotos auf eine
Million. Von dem Stolz auf diese Geschichte zeugt der neugotische
Palazzo, der 1897 errichtet wurde. Den Bombenkrieg hat er zwar
überstanden, doch waren seine Kriegsschäden größer als zunächst
angenommen, und so wurde er für den Funktionsbau aufgegeben, der mit
dreißig Regalkilometern auf dreißig Jahre ausgelegt war. Schon länger
platzte er aus allen Nähten, doch wurde die Statik des Hauses, das nur
über ein Kellergeschoss verfügt, als stabil genug beurteilt, um eine
Aufstockung zu erwägen.
Groß und reich geworden ist das Archiv zu Beginn des neunzehnten
Jahrhunderts, als ihm bedeutende Bürgerstiftungen, so von dem
Kunstsammler und Museumsgründer Franz Ferdinand Wallraf oder von
Baumeistern wie Sulpiz Boisserée, Jakob Ignaz Hittorf oder dem
Dombaumeister Ernst Zwirner, übergeben wurden. Nachlässe von Dichtern
und Architekten, bei denen es sich anders als beim amtlichen
Schrifttum nicht um gesetzlich vorgeschriebene Sammelgebiete handelt,
ließen es mit Einrichtungen wie dem Marbacher Literaturarchiv und dem
Architekturmuseum in Frankfurt konkurrieren. So beherbergte es nicht
nur den Nachlass von Heinrich Böll, mit 380 Kartons der
umfangreichste, der erst vor drei Wochen um ein letztes, größeres
Konvolut ergänzt wurde, sondern auch den von Irmgard Keun, Vilma
Sturm, Paul Schallück, Hans Mayer oder Albrecht Fabri.
Umfangreiche Bestände
Siebenhundert private Einzelfonds verzeichnet das Inventar. Als die
seit Jahren unterfinanzierte Einrichtung 2003 ganz in Frage gestellt
wurde, fühlten sich die beiden wichtigsten Schriftsteller der Stadt
getäuscht. Doch während Dieter Wellershoff die schon übergebenen
Manuskripte, für die er auch ein Angebot aus Marbach hatte, in Köln
beließ, sah sich Jürgen Becker an seine Zusage nicht mehr gebunden und
bedachte stattdessen die Akademie der Künste in Berlin. Jochen
Schimmang, lange in Köln zu Hause, hat noch nicht so weit vorgesorgt,
ist aber ganz nah dran: Geistiges Zentrum seines für Juli
angekündigten Romans "Am Rhein so schön" ist ein Mitarbeiter des
Archivs.
Auch Verlage wie Kiepenheuer & Witsch oder Pahl-Rugenstein haben
umfangreiche Bestände hierhergegeben, das größte Archiv von Jacques
Offenbach ist in Köln ebenso beheimatet wie die Nachlässe des
Komponisten Max Bruch, des Tenors William Pearson, des Dirigenten
Günter Wand, des Malers Wilhelm Leibel, der Fluxus-Künstlerin Mary
Bauermeister oder des Medientheoretikers Vilém Flusser. Für
Architekten galt das Haus als erste Adresse, mehr als sechzig von
ihnen haben ihm Pläne und Modelle anvertraut, darunter Karl Band,
Dominikus und Gottfried Böhm, Wilhelm Riphahn sowie zuletzt Oswald
Mathias Ungers oder Hans Schilling, der am Tag des Unglückes zu Grabe
getragen wurde.
Schlimmer als bei Anna Amalia
Von einer "Katastrophe für die europäische Geschichtsschreibung"
spricht der Historiker Eberhard Illner, der von 1985 bis 2008 hier
tätig war, seit 1999 die Abteilung Nachlässe, Sammlungen und Fotos
leitete und heute Direktor des Historischen Zentrums in Wuppertal ist:
Das Ausmaß des Schadens sei erheblich größer als beim Brand der
Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar. Andererseits sind die Aussichten auf
Restaurierung bei Schutt günstiger als bei Feuer, und schon erklärt
die Landesregierung, als Leihgeber von Kloster- und Stiftungsurkunden
direkt betroffen, es zeichne sich ab, "dass die alten und
weltberühmten Urkunden weitgehend sicher geborgen werden können".
Dabei dürfte es sich um die Bestände der Magazinräume im hinteren
Kellerbereich handeln, noch wertvollere Urkunden aber befanden sich im
Hauptmagazin, das zerstört am Boden liegt.
Ausgelagert wurden in jüngster Zeit eher belanglose Dokumente, auch um
kulturpolitisch den Druck für ein dringend benötigtes neues Domizil zu
erhöhen. Verfilmt sind die Bestände vor allem bis 1945, doch gilt die
Qualität der Aufnahmen, die in einem Stollen im Schwarzwald liegen,
als mäßig bis schlecht. Der tiefe Krater, der in die Severinstraße
gerissen wurde, wird schnell verfüllt sein. Die viel größere Wunde ist
unsichtbar: eine Amnesie, deren Ausmaß sich nicht abschätzen lässt.
Doch die Kölner Mentalität ist eine andere: "Erst wenn der Dom
vollendet ist, geht die Welt unter."
------------------------ schnapp ----------------------
Post by Edmund Lauterbach<http://www.stadt-koeln.de/buergerservice/adressen/00118/>
Darin unter "Aktuell":
------ schnipp ---------------
Das Gebäude in der Severinstraße 222, in dem das Historische Archiv
der Stadt Köln untergebracht war, ist am Dienstag, den 3. März 2009,
eingestürzt:
Alle Informationen auf einen Blick
Post by Edmund Lauterbach<http://www.stadt-koeln.de/5/kulturstadt/historisches-archiv/>
-------------------- schnapp ------------
MfG,
L.W.
-- -----------------------------------------------------